Wie Hamburger Start-ups die Welt vor Plastikmüll retten - Hamburger Abendblatt

2022-09-09 23:32:26 By : Mr. Harry Xu

Wildplastic-Mitgründer Christian Sigmund mit Plastikmüll, der in Haiti gesammelt wurde.

Sie heißen Wildplastic, Traceless, LignoPure und Cirplus und haben eine gemeinsame Mission: die Welt von einem Umweltübel zu befreien.

Hamburg.  Das Problem steht ordentlich verpackt in zwei Säcken auf einem Rollwagen. „Das sind alles Einweg-Plastikverpackungen, die in der Umwelt gesammelt wurden“, sagt Christian Sigmund und kippt einen Teil auf den Boden. In diesem Fall sind es Mini-Wasserbeutel, sogenannte Water Bags, die zum Beispiel in Haiti als billige Alternative zu Flaschen genutzt werden. Kaum mehr als zwei, drei Schlucke, dann landen sie leer an Stränden, auf Straßen oder auf illegalen Deponien.

„Wildes Plastik“, nennt Sigmund das. Und es ist klar, dass das hier nur ein winziger Teil eines riesigen Themas ist. Der 32-Jährige ist Geschäftsführer des Hamburger Start-ups Wildplastic. Die Idee: Wenn die herumfliegenden Kunststofffolien in der Natur eingesammelt, sortiert und recycelt werden, wird aus dem Müll ein Wertstoff – der wieder für die Herstellung neuer Produkte eingesetzt werden kann.

Es geht um schier unendliche Mengen. Jährlich werden weltweit mehr als 300 Millionen Tonnen Plastik produziert, viel davon wird schnell zu Müll. Laut der Umweltschutzorganisation WWF liegen allein in den Meeren fünf Millionen Tonnen Kunstabfälle. Immer wieder gibt es erschreckende Bilder von vermüllten Stränden und riesigen Kunststoffteppichen auf dem Wasser. Auch Christian Sigmund war bei einer Südamerika-Reise im Amazonas durch Plastik geschwommen.

„Mir ist klar geworden, dass ich mein Wissen dafür einsetzen will, etwas gegen die Verschmutzung der Umwelt durch Plastik zu tun“, sagt der Marketingexperte, der schon für Internetfirmen wie Google und YouTube gearbeitet hat. 2019 gründete er mit fünf Männern und Frauen aus unterschiedlichen Bereichen, darunter Jimdo-Mitgründer Fridtjof Detzner, Agentur-Inhaberin Katrin Oeding und Kunststoff-Manager Dieter Gottschalk Wildplastic. „Unsere Mission ist es, den Planeten von Plastikmüll zu befreien“, heißt es selbstbewusst auf der Internetseite.

Inzwischen kooperieren die Hamburger in Haiti, Ghana, Indonesien und Indien mit mehreren Organisationen wie Plastic Bank und Sammlern, die das wilde Plastik aus der Natur holen. „Weil es dort noch keine Recyclingstrukturen gibt, verschiffen wir die sortierten Plastikfolien nach Europa“, sagt Sigmund, der den Aufbau mit einem neunköpfigen Team managt. „Es ist echte Pionierarbeit, weil wir die Lieferketten komplett neu organisieren müssen. Corona hat das nicht einfacher gemacht“, sagt er.

Aktuell lässt Wildplastic die Kunststoffreste in Spanien und Portugal wiederaufbereiten. Aus dem daraus gewonnenen Rohstoff, einem Granulat, wird im nächsten Schritt in Deutschland das erste Produkt der Plastikmüll-Retter hergestellt: die Wildbag. „Der erste Müllbeutel, der die Welt aufräumt“, sagt Sigmund. Seit einigen Wochen gibt es die stabilen Tüten – ungewöhnlich designt im Leopardenlook oder mit stilisierten Farnblättern – in aktuell drei Größen (25, 35, 60 Liter) bundesweit in Supermärkten und bei Drogerieketten. Gerade läuft zudem eine Kooperation für die Produktion von Versandtaschen mit dem Onlinehändler Otto an.

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Nicht nur Meere und Strände in vielen Gegenden der Welt sind voll Plastik, die Regale in den Geschäften hierzulande auch. Lebensmittel, Elektrogeräte, Kleidung – viele Waren sind in Plastik eingepackt. Gut sechs Millionen Tonnen Kunststoffabfälle fallen aktuellen Studien zufolge jährlich in Deutschland an, mehr als die Hälfte wird verbrannt oder ins Ausland exportiert. Dass das so nicht weiter gehen kann, haben inzwischen viele erkannt.

Anfang des Monats trat ein Gesetz in Kraft, dass Einweg-Plastik in To-Go-Bechern, Trinkhalmen oder Wattestäbchen in der gesamten EU verbietet. Seit 2019 gilt zudem ein neues Verpackungsgesetz, das bis 2022 Recyclingquoten von 63 Prozent vorschreibt und gerade noch mal verschärft wurde. Die Industrie reagiert inzwischen. Zahlreiche Firmen, darunter Kosmetikkonzerne wie Beiersdorf werben damit, ganz oder teilweise Verpackungen aus recyceltem Kunststoff einzusetzen.

In Hamburg gibt es zudem gleich mehrere Start-ups, die auf unterschiedliche Weise an Ideen und Lösungen für das Plastikmüll-Problem arbeiten. Erst vor wenigen Wochen haben es die Gründerinnen von Traceless bei der Verleihung des Future Hamburg Award, Anne Lamp und Johanna Baare, aufs Siegertreppchen geschafft. Verfahrenstechnikerin Lamp hat an der TU Hamburg-Harburg ein Verfahren für die Herstellung eines Materials entwickelt, das die gleichen Eigenschaften wie Kunststoff hat, aber sich komplett biologisch abbaut und in kurzer Zeit spurlos verschwindet.

Genutzt werden dafür Getreidereste, wie sie etwa in Brauereien, Stärkefabriken oder Ethanol-Raffinerien entstehen. Daraus produziert Traceless ein Granulat, aus dem auf herkömmlichen Kunststoff-Verarbeitungsmaschinen Folien oder Besteck hergestellt werden können. Aktuell wird noch im kleinen Maßstab im ISI-Innovationszentrum in Buchholz (Nordheide) produziert. Jetzt ist eine eigene Produktionsanlage in Planung.

Pflanzenreste, die sich nicht zum Essen eignen, sind auch bei zwei weiteren sogenannten Ökotech-Start-ups der Ausgangsstoff. Biolutions macht aus Stroh oder Tomatenpflanzen kompostierbare Obst- und Gemüseschalen. Künftig soll das Angebot auch auf Verpackungen für Frischfleisch und Fertiggerichte erweitert werden. Der Start der Produktion im großen Stil in einer eigenen Fabrik im brandenburgischen Schwedt ist in diesem Jahr geplant.

Joana Gil und Wienke Reynolds haben ein Ersatzprodukt für Kunststoff auf der Basis von Lignin entwickelt, das aus Resten der Agrar- und Forstindustrie isoliert wird. LignoPure haben sie ihre Firma genannt und sich inzwischen auf kosmetische Inhaltsstoffe spezialisiert. Mit ihren Alternativen können etwa Mikroplastik oder schädliche Sonnenblocker ersetzt werden, die schon jetzt Umwelt und Mensch massiv belasten. Auch LignoPure will in den nächsten Monaten eine eigene Herstellung aufbauen.

Dass die Gründer mit ihren Lösungsansätzen richtig liegen, zeigt das Interesse von Investoren, die in den vergangenen Monaten Millionenbeträge in die Öko-Start-ups gesteckt haben. Auch die Gründer von Cirplus, Christian Schiller und Volkan Bilici, sind gerade in einer größeren Finanzierungsrunde.

Der Online-Marktplatz will Anbieter von Plastikabfällen, Recyclingunternehmen und Kunststoffverarbeiter zusammenbringen und so auf dem bislang kleinteiligen Markt mehr Transparenz schaffen und recyceltes Plastik langfristig im Kreislauf halten. Die Nachfrage steigt, heißt es bei Cirplus. Gerade erst haben die Start-up-Unternehmer Fördergelder vom Bund erhalten, um mit Plastik-Sammelorganisationen wie der Plastic Bank digitale Vertriebsstrukturen aufzubauen.

Da schließt sich der Kreis zu Wildplastic. „Wir holen wildes Plastik zurück in den Kreislauf“, sagt Christian Sigmund. An diesem Tag sitzt der Wildplastic-Geschäftsführer in einem schicken Loft in der Hamburger Speicherstadt, wo das Start-up als Untermieter untergekommen ist. Noch steht das Projekt am Anfang. An diesem Morgen ging es in einer internen Besprechung um die aktuellen Unruhen in Haiti und die Frage, wann der nächste Container mit dem dringend erwarteten Plastikmüll verladen werden kann.

Danach diskutierte Sigmund mit Mitarbeitern über Verkaufszahlen. Die erste Resonanz ist gut. „Mehr als 1,5 Millionen Wildbags wurden bislang verkauft“, sagt der Wildplastic-Chef. Das entspricht 30 Tonnen wildem Plastik. Gesammelt worden seien inzwischen aber schon mindestens hundert Tonnen. Gerade kamen die ersten Anfragen von Festivals, die den Müll statt in normalen Plastiktüten in Wildbags sammeln wollen.

Wildplastic verspricht nicht nur eine sauberere Umwelt, sondern auch bessere Löhne für die Sammler und Sammlerinnen in den Herkunftsländern und trotz weiter Transportwege für die Kunststoffabfälle eine CO2-Ersparnis von 60 Prozent gegenüber Neuplastik. Inzwischen stecken eine Million Euro in dem Unternehmen, das als sogenannte Purpose-GmbH mit gebundenem Vermögen organisiert ist. Neben Bankkrediten kommt unter anderem Geld von Mitgründer Fridtjof Detzner, der nach seinem Ausstieg aus dem erfolgreichen Online-Baukastensystem Jimdo für Internetseiten über seinen Wagniskapitalfonds Planet A in Umwelt- und Klimaschutzprojekte investiert.

Auch Onlinehändler Otto interessiert sich für die Tüten aus wildem Plastik. Im vergangenen Jahr hatte der Konzern einen Pilotversuch mit Versandtaschen aus dem Wildplastic-Grundstoff gestartet. Mit Erfolg. Qualität und Stabilität entsprachen den Anforderungen, hieß es aus der Zentrale in Bramfeld. Auch die Kunden hätten positiv reagiert. Inzwischen gibt es einen Kooperationsvertrag. „Wir wollen einen Großteil der Tüten auf Wildplastic umstellen. Zwar nutzen wir auch heute schon recyceltes Material für unsere Versandtüten. Das wilde Plastik aber ist noch besser, weil wir so in Ländern ohne funktionierendes Abfallsystem einen Beitrag zum Umweltschutz leisten können“, sagt Otto-Nachhaltigkeitschef Benjamin Köhler.

Es geht um Millionen Versandtaschen. Für das kleine Start-up ist das eine riesige Chance. „Wir können in der Allianz mit Otto das Zehnfache der jetzigen Plastikmengen verarbeiten“, schätzt Wildplastic-Geschäftsführer Sigmund. Aber es ist auch eine enorme Herausforderung. „Wir tun alles dafür, das zu schaffen. Aber es ist immer noch die Welt des wilden Plastiks.“

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