Frankreich: Prachtstücke aus Wellpappe - Reise - Stuttgarter Zeitung

2022-07-15 19:44:41 By : Ms. Linda Lee

Die Leichtigkeit des Seins prägt den südfranzösischen Landhausstil. Wer ein Stück davon mit nach Hause nehmen möchte, wird bei Antiquitätenhändlern vor Ort fündig.

L’isle-Sur-la-Sorgue - Ein Stapel Servietten mit gesticktem Monogramm teilt sich den Platz auf dem zierlichen Beistelltisch mit einem Emailkrug, schweren Bistrogläsern und einer Suppenschüssel mit kunstvoll geformten Henkeln, die als Behälter für altmodisch bemalte Pillendöschen dient. Neben einer leicht verbeulten Trompete sitzt ein Porzellanhund mit traurigen Augen. Ein Vintage-Spiegel im silbernen Rahmen vervollständigt das Ensemble, das so oder so ähnlich in den Antiquitätenläden von L’Isle-sur-la-Sorgue arrangiert sein könnte. Nach Paris gilt die Kleinstadt am Fluss Sorgue 20 Kilometer östlich von Avignon als zweitwichtigster französischer Handelsplatz für Trödel und Antiquitäten.

Liebhaber des provenzalischen Einrichtungsstils, der sich durch die Kombination von rustikalen Materialien wie Holz, Korb, Leinen oder Gusseisen mit romantisch-verspielten Accessoires auszeichnet, gehen hier auf Schnäppchenjagd nach originellen antiken Fundstücken und Unikaten aus den Ateliers der lokalen Kunsthandwerker. In einer der Kopfsteinpflastergassen von L’Isle-sur-la-Sorgue befindet sich die Werkstatt von Cécile Chappuis. Hier präsentiert die Autodidaktin einzigartige Objekte aus Karton: „Ich lasse mich von der Flämischen Schule und der italienischen Renaissance inspirieren und interpretiere sie zu etwas Neuem.“

Schneidebrett, ein scharfes Papiermesser und Holzleim

Kaum zu glauben, dass die elegante schwarze Kommode mit den herausziehbaren Schubladen und der darüber hängende, robust wirkende Spiegelrahmen im Grunde aus Papier bestehen. Selbst die Werkbank entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Ansammlung gestapelter Wellpappe, wie sie in der Industrie als Verpackungsmaterial genutzt wird. „Die Grundidee besteht darin, aus einem Wegwerfmaterial etwas Schönes zu gestalten“, sagt Cécile. Für ihre Arbeit benötigt die Künstlerin nichts weiter als ein Schneidebrett, ein scharfes Papiermesser, Holzleim - und geeignete Utensilien zum Auftragen der Farbe.

Valérie Martin wiederum beschäftigt sich ausschließlich mit Objekten, die man bei Cécile nicht finden wird: Die Polstermeisterin schenkt alten Stühlen und Sesseln ein neues Leben - zum Beispiel als Diva. „Samt, Seide und Satin sind meine bevorzugten Materialien“, verrät die Designerin. Auch Schleifen, Spitze, originelle Knöpfe und Federn in allen möglichen Farben kommen zum Einsatz. Letztere bezieht Valérie vom selben Lieferanten wie das Moulin Rouge in Paris. Der Star ihrer Kollektion „Barock’n’Roll“ tanzt da etwas aus der Reihe: die Sitzfläche mit Jeansstoff bezogen, der geschwungene Louis-Philippe-Rahmen mit Nietengürtel und Schmuck-Skeletten verziert. Die Rückenlehne zieht mit einem knalligen Totenkopf-Motiv die Blicke auf sich. „Mein Lieblingsstück“, gesteht Valérie, selbst ein Hard-Rock-Fan. Als Grundlage für ihre Kreationen dient ihr häufig der „Voltaire“. „Dieses Modell wurde in Frankreich so häufig produziert, dass es viele Leute daheim stehen haben und nach einer gewissen Zeit eine visuelle Auffrischung möchten.

„Für Mosaike braucht man Zeit, eine gute Art der Entschleunigung“

Dabei richte ich mich ganz nach den Wünschen der Kunden.“ Wer nach einem Streifzug durch die Ateliers von L’Isle-sur-la-Sorgue Lust bekommen hat, selbst etwas Dekoratives für zu Hause zu gestalten, kann sich zum Beispiel bei Marie-Agnès Jacquet in der Kunst des Mosaiklegens versuchen. In ihrem Landhaus in Crillon-le-Brave zwischen Weinbergen und Olivenhainen etwa 25 Kilometer nördlich von L’Isle-sur-la-Sorgue bietet sie Halbtages-Schnupperkurse bis hin zu fünftägigen Workshops an.

„Für Mosaike braucht man Zeit, eine gute Art der Entschleunigung“, sagt Marie-Agnès. Vor 20 Jahren tauschte die Kunststickerin ihre Nadeln gegen Mosaik-Hämmerchen und arbeitete fortan mit Marmor und Glas. In ihrem Studio kreiert sie ungewöhnliche 3-D-Mosaike aus Kunstharz - Reminiszenzen an die Pop-Art wie die Mosaik-Graffiti an der Küchenwand. Für ihre Mikro-Mosaike stellt sie die Puzzleteile selbst her, indem sie schmale Glasstäbe über dem Bunsenbrenner erwärmt und in Stückchen schneidet. „Auf diese Weise kann ich die Farbe des Glases beeinflussen und Vorlagen besser interpretieren“, sagt die Künstlerin, die ihr Handwerk in Ravenna und Rom nach traditionellen Techniken erlernt hat. Auf alte Handwerkskunst greift man auch in der 1808 als Leinenweberei gegründeten Wollmanufaktur Brun de Vian-Tiran zurück.

Damals wurden in L’Isle-sur-la-Sorgue etwa 30 Spinnereien und Webereien mit der Wasserkraft des Flusses betrieben - sieben hölzerne Wasserräder im Stadtbild erinnern an jene Zeit. Heute ist das Unternehmen der größte Abnehmer von Merinowolle in Europa und die einzige Decken-Manufaktur in Frankreich, die noch mit echten Tierfasern arbeitet. Daraus werden feinste Decken, Schals und Quilts hergestellt. „Noch immer wird jeder Arbeitsschritt ab Lieferung des Rohmaterials in unserem Haus getätigt“, sagt Monsieur Pierre Brun mit sichtlichem Stolz. Damit ist die Firma Brun de Vian-Tiran Sinnbild für die Bewahrung alter Handwerkskunst in der Provence - ein kostbares Gut.

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Anreise Mit Lufthansa ab Frankfurt oder München direkt nach Marseille, www.lufthansa.com .

Air France bietet Umsteigeverbindungen ab Stuttgart via Paris nach Marseille, www.airfrance.de .

Zuganreise via Paris und Avignon nach Marseille, www.bahn.de .

Unterkunft La Maison sur la Sorgue in L’Isle-sur-la-Sorgue, www.lamaisonsurlasorgue.com , zentral gelegenes Boutique-Hotel mit vier individuell eingerichteten Zimmern in einem Haus aus dem 17. Jahrhundert mit Garten, Terrassen und Swimmingpool. Übernachtung/Frühstück im DZ ab 260 Euro.

Hôtel du Poète, Le village, 84800 Fontaine-de-Vaucluse, www.hoteldupoete.com .

Alte Mühle am Ortsrand, die mit viel Liebe in ein stilvolles kleines Hotel verwandelt wurde. Zimmer je nach Saison und Ausstattung 98 bis 325 Euro.

Allgemeine Informationen Vaucluse Tourisme, 12 rue Collège de la Croix, 84008 Avignon, Öffnungszeiten: Mo.-Fr. 9-12.30 Uhr und 14-16.45 Uhr. www.provence-tourismus.de , www.provenceguide.com

Ateliers & Wollmanufaktur Cécile Chappuis, 17 rue Théophile Jean, 84800 L’Isle-sur-la-Sorgue, www.carton-noir.com

Bijouseat, 555 chemin de la Brouillasse, 84800 L’Isle-sur-la-Sorgue, www.bijouseat.fr

Mosaic Academy, 38 chemin des Carrières, 84410 Crillon-le-Brave, www.mosaic-academy.com

Manufacture Brun de Vian-Tiran, 2 cours Victor Hugo, 84808 L’Isle-sur-la-Sorgue Cedex, www.brundeviantiran.com

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