Inflation bringt Frau an Armutsgrenze: "Da ist nicht mehr viel Luft nach oben" | WEB.DE

2022-06-10 19:51:21 By : Ms. Nicole ou

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Eigentlich wollte Monika Koch (Name geändert) diese Gedanken nie wieder haben: Wie komme ich diesen Monat über die Runden? Ist das etwas teurere Obst noch drin? Erlaube ich mir den neuen Pullover wirklich? Jahrelang lebte die heute 62-Jährige von Sozialleistungen. "Ich habe mich dabei immer unglaublich schlecht gefühlt", gibt die gelernte Heilpädagogin und Gärtnermeisterin zu.

Es sollte alles besser werden. Kein Gang zur Tafel mehr, nicht mehr jeden Groschen zweimal umdrehen. "Ich habe Arbeit gefunden und bin heute als pädagogische Fachkraft in einer Wohngruppe tätig", sagt sie. Für Koch bedeutet das viel: Stolz, Anerkennung, ein Stück ihrer Würde zurück. Auf dem Papier ist die Sprache nüchterner: Knapp 1.200 Euro.

Jeden Morgen steht die Gelsenkirchenerin dafür auf, fährt mit dem Auto ins benachbarte Gladbeck. "Viel bleibt mir nach Abzug meiner laufenden Kosten nicht mehr übrig", sagt Koch, die alleinstehend ist. Für die knapp 60 Quadratmeter große Wohnung gehen 450 Euro für die Kaltmiete ab, hinzukommen Nebenkosten, Lebensmittel, Kleidung, Telefonkosten, Freizeitbedarf und weiteres. "Ich habe schon Angst vor der nächsten Heizkostenabrechnung", gesteht Koch.

Besonders stark spürt sie die Inflation an der Tankstelle und im Supermarkt. Die Teuerung liegt inzwischen nur noch knapp unter der Marke von acht Prozent. Experten sehen das Ende damit noch nicht erreicht. "Früher konnte ich meinen VW Beatle für 60 Euro voll tanken, heute muss ich 80 Euro hinlegen", erzählt Koch. Das Auto stehen lassen? "Kommt nicht in Frage. Ich würde zu meiner Arbeitsstelle zwei Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln brauchen", sagt die Gelsenkirchenerin.

Das Neun-Euro-Ticket hat sie sich trotzdem geholt. "Ich finde das eine gute Sache", sagt sie über die Maßnahme der Bundesregierung. Die knapp 500 Euro teure Reparatur an der Achse ihres Kleinwagens ist damit allerdings noch nicht bezahlt, unruhig schlafen wird Koch deshalb weiterhin.

"Derzeit spare ich vor allem am Essen", gibt sie zu. Die Preissprünge aus dem Supermarkt hat sie alle im Kopf. "Spaghetti haben immer 60 Cent gekostet, jetzt liegen sie bei 1,39 Euro", erklärt Koch. Ihr Lieblingsessen gibt es deshalb seltener als üblich. Zu Normalpreisen hat sie die Lebensmittel in den letzten Wochen häufiger stehen lassen. "Ich kaufe viel aus der Sonderangebotskiste im Supermarkt", sagt Koch.

Wenn sie Bio-Lebensmittel darin entdeckt, freut sie sich besonders. Die Tipps, Prospekte vor dem Einkauf durchzublättern, nicht mit hungrigem Magen einkaufen zu gehen, Preise zu vergleichen und die Hausmarken der Discounter zu wählen, kennt Koch alle bereits.

"Wenn man das schon macht, wo soll man dann noch sparen?", fragt sie. Dass die Preise noch weiter steigen sollen, bereitet ihr große Sorge. Eine aktuelle Studie des Kreditversicherers "Allianz Trade" kommt zu dem Schluss, dass der Preisanstieg bei Lebensmitteln seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat.

Experten schätzen, dass im Lebensmitteleinzelhandel Preissteigerungen von 10,7 Prozent wahrscheinlich seien. Anders gesagt: Jährliche Mehrausgaben von über 250 Euro pro Person. "Ich weiß nicht, wo ich noch sparen soll. Da ist nicht mehr viel Luft nach oben", sagt sie.

Früher sei sie berechtigt gewesen, Lebensmittel von der Tafel zu holen. "Heute liege ich über der Verdienstgrenze und kann mir dort nichts mehr holen. Die Tafeln können aber ja auch nicht alles auffangen", meint Koch. Trotz der neuen Arbeitsstelle sei ihr Lebensniveau nicht wirklich gestiegen.

Aus ihrer Sicht muss die Politik etwas daran ändern. "Arbeit muss sich lohnen, das ist nur gerecht", sagt sie. Koch hat bereits überlegt, Obst und Gemüse selbst anzupflanzen, um sich weiterhin gesund ernähren zu können. "Aber ich habe keinen Garten und ein Schrebergarten ist auch wieder zu teuer", gibt sie zu bedenken.

Unterwegs holt sie sich kein Essen mehr, an einen Restaurantbesuch denkt sie ohnehin nicht. Die Anschaffung eines neuen Sofas hat sie aufgeschoben. "Das ist leider total durchgesessen. Ich schaue nun, woher ich Schaumstoff bekommen kann, um es wieder aufzumotzen", erzählt sie.

Auch der Urlaub im Sauerland ist wieder in weite Ferne gerückt. "Ich habe mir eigentlich gesagt: Jetzt, wo ich arbeite, habe ich auch Urlaub verdient", erzählt die 62-Jährige. Die Unterkunft im Sauerland war schon angezahlt, dann wurde es finanziell doch wieder zu knapp. An ihrem Hund und ihrer Katze zu sparen, auf die Idee komme Koch derweil nicht. "Dann stecke ich lieber selbst zurück", sagt sie.

Konkret heißt das: Kein Netflix, kein Amazon Prime – obwohl sie ein Abonnement bei den Streaming-Anbietern so gerne hätte. Ein Kinobesuch weniger, kein Kaffee-to-go. Und ein Konzertticket von den Rolling Stones sowieso nicht. "Das kostet um die 200 Euro", sagt Koch und lacht verlegen. Gut bloß, dass "Sympathy for the devil", "Gimme Shelter" und "Satisfaction" aus dem Küchenradio kostenlos bleiben.