NRW Select: Vom Bestatter zum Blogger - WELT

2021-11-16 13:43:03 By : Ms. Susan Kung

D ie amerikanische Freiheitsstatue im floralen Rock, blitzende Skulpturen aus ehemaligen Toastern, Waschmaschinentrommeln und Klobürsten, ganze Drehbücher zur Rollenbeschreibung einzelner Charaktere – im Atelier des Künstlers Johannes Gehrke ist einiges los. Das ist Elke Backes aus Mönchengladbach aufgefallen, als sie und ihr Mann Peter ein Gemälde für ihre Privatsammlung abholen wollten.

„Das war total verrückt, der Künstler, die Arbeiten im Atelier. Es wäre schade, wenn ich die Eindrücke für mich behalten hätte“, erinnert sich Backes. Am Abend des Besuchs sicherte sie sich die Domain für ihren Blog, der erste Artikel entstand ganz spontan – aus dem Gedächtnis und mit Handyfotos.

Das war vor drei Jahren. Seitdem reist Backes nach Berlin, Antwerpen oder Kapstadt und besucht etablierte und aufstrebende Künstler in ihren Ateliers, immer begleitet von einem professionellen Fotografen, der das gesamte Gespräch zwischen ihr und der Künstlerin dokumentiert. Am Ende, wenn sie und die Künstlerin aufgewärmt sind, entstehen die Titelfotos ihrer Blogartikel, die durch die Inszenierung nicht nur die Künstlerin in den sozialen Netzwerken bekannter machen, sondern auch sie. Lustig, überraschend, aus der Rolle fallend – das erwartet man von den Fotos.

Sie lernt die Künstler auf Ausstellungen kennen oder kontaktiert sie auf traditionelle Weise – abgelehnt hat sie bisher niemand. „Wenn ich kann, fahre ich ins Atelier, ohne vorher viel über den Künstler gelesen zu haben. Auf diese Weise kann ich möglichst unvoreingenommen an die Kunstwerke herangehen und mir ein eigenes Bild machen“, erklärt Backes. In ihren Blogartikeln beschreibt sie ihre Erfahrungen in leichter Sprache nicht nur für Kunstkenner, sondern auch für Kunstanfänger.

Mit jedem Atelierbesuch wächst ihr Wissen über Kunst und Kunsttechniken, Hintergrundgedanken und Absichten, von denen die Künstler ihr gerne erzählen: „Das sind verrückte Gespräche, die da entstehen und die mir unglaublich viel bringen. Sehr philosophisch, man beschäftigt sich automatisch mit sich selbst. "

Für Backes spielte die Kunst erst spät eine Rolle. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete die gebürtige Rheinländerin zwei Jahrzehnte im Bestattungsinstitut ihrer Eltern, bis sie den Wechsel zu immer günstigeren Bestattungen nicht mehr vertragen konnte. Sie verkaufte das Familienunternehmen und wagte den Sprung in die Wissenschaft: Nach einem Bachelor in Kommunikationsdesign in Köln folgte ein Master in Kunstgeschichte in Düsseldorf. Ihr Mann Peter überredete sie zur Promotion, "sonst wird das Studium nicht abgeschlossen".

Die Künstler für ihren Blog wählt sie selbst aus. Sie konzentriert sich auf das Rheinland, wo sie auch zu Hause ist, in Berlin und in Südafrika, ihr „Lieblingskind“, wie sie sagt. Erst im Januar entdeckte sie die südafrikanische Kunstszene für sich und fand dort schnell Freunde. Ursprünglich sollte die fünfwöchige Reise zum Kap der Guten Hoffnung eine Art Selbstfindungsreise sein. Am Ende wurde der Kunsthistoriker von einer Künstlerparty zur nächsten eingeladen, und so entwickelte sich schnell ein so großes Netzwerk.

In Johannesburg lernte sie unter anderem Chris Soal, einen aufstrebenden Objektkünstler, kennen. Er färbt Kronkorken von Bierflaschen und verwandelt sie in spiralig gedrehte Stränge. Er wurde für eine Skulptur geehrt, die einen abgenutzten, leeren Fußball zeigt und vom Straßenfußball in Johannesburg inspiriert ist. „Die Werke der jungen südafrikanischen Künstler packen mich und berühren mich wahnsinnig“, sagt Backes.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die Unzufriedenheit mit der extremen Teilung des Landes, die auch nach dem Ende der Apartheid noch spürbar war, die politischen und gesellschaftlichen Spannungen, all das findet sich in den Kunstwerken wieder. Ihre Arbeit und der Kontakt zu einem Kapstädter Galeristen führten sie kürzlich sogar zu einer Veranstaltung nach New York, die von der Stiftung der Modeikone Donna Karan organisiert wurde.

In der Weltmetropole präsentierten die Fotografen Carol Beckwith und Angela Fisher ihre Fotos von rund 200 afrikanischen Stämmen, die sie in 40 Jahren Reise durch fast alle Länder Afrikas kennengelernt haben. Beeindruckende Fotos, New Yorker High-Society-Frauen – und mittendrin Elke Backes aus Mönchengladbach.

Von all ihren Atelierbesuchen erinnert sie sich besonders an den Berliner Künstler Jonathan Meese, Enfant Terrible der deutschen Kunstszene. Verfassungsfeindliche Symbole, die Thematik deutscher Heldensagen – Skandal-Künstlerin Meese stellte sich die Kunstbloggerin sehr extrovertiert und wild vor: „Jonathan war ganz anders, als ich dachte. Fromm wie ein Lamm, interessiert an seinem Gegenüber – das kann nicht Jonathan Meese sein, dachte ich die ganze Zeit“, so Backes.

„Als wir die bekannten Zwei-Personen-Fotos machten, drehte er plötzlich ganz auf: Er holte eine Kiste mit schrägen Requisiten hervor, mit denen man für jede Kostümparty gerüstet gewesen wäre. Plötzlich hatten wir außerirdische Sonnenbrillen auf und Stofftiere im Arm. Er schlug auch verschiedene Posen vor, sprang von einer Ecke in die andere, warf eine Plastikrolle in die Luft, völlig verdreht. „Der Besuch in Meese dauerte vier Stunden – normalerweise bleiben es zweieinhalb.

Backes erklärt das Vertrauen und die Offenheit, die ihr die Künstler mit ihrem ungewöhnlichen Werdegang entgegenbringen: „Ich glaube, ich habe durch meinen früheren Job als Bestatterin ein starkes Einfühlungsvermögen entwickelt. Die Künstler spüren das und fühlen mich ernst genommen, nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch. „Sie verabschiedet sich, denn sie ist unterwegs – am nächsten Tag geht der Flieger zurück nach Kapstadt.

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